Das Geld regiert
Man müsse die fettesten Pferde füttern, damit für die Spatzen mehr Pferdeäpfel abfallen, sagte Frau Thatcher. Jetzt sind wenige Pferde fett geworden - und mehr Spatzen dünner
Er war immer ein überzeugter Liberaler und hatte doch klare Visionen: Ralf Dahrendorf, deutscher Soziologe, ehemaliger FDP-Politiker und später viele Jahre Direktor der renommierten London School ofEconomics. Dem Kapitalismus keinesfalls feindlich gesonnen, formulierte er bereits Anfang der neunziger Jahre die entscheidende Herausforderung in Zeiten der Globalisierung. Es gelte drei Ziele unter einen Hut zu bringen: Sozialstaat, Demokratie und eine international wettbewerbsfähige Wirtschaft. Betrachtet man die Entwicklung der vergangenen Jahre in einem Industrieland wie Deutschland, dann sind zwei dieser drei Ziele akut gefährdet: der Sozialstaat und die Demokratie. Den Dreiklang dieser drei Ziele wieder auf die Tagesordnung der Diskussion zu setzen - darin liegt die große Chance der von Franz Müntefering initiierten Kapitalismus-Debatte. Ansonsten drohen sie einer wirtschaftlichen Entwicklung geopfert zu werden, die vor einem Vierteljahrhundert begann und die die Welt einschneidend verändert hat.
Die Pferde-Spatz-Revolution
Seit mehr als 25 Jahren sind wir Zeugen einer Revolution. Ihre Vorkämpferin kam nicht wie eine Revolutionärin daher, sondern mit Kostüm und Handtasche wie zum sonntäglichen Kirchgang. Ihr Name: Margaret Thatcher. Ihr Wirtschaftsrezept war so einfach wie militant: Steuern runter, Sozialleistungen runter, Schutzvorschriften abbauen -und dafür die Unternehmensgewinne erhöhen. Konsequenter als jede andere Regierung setzte die Regierung Thatcher die so genannte Pferde-Spatz-Theorie in die Praxis um: Man müsse die fettesten Pferde füttern, damit auch für die Spatzen mehr Pferdeäpfel abfallen. Der so genannte Neoliberalismus war geboren. Er hat das Ziel, den Markt von staatlichen und anderen Beschränkungen zu befreien. Diese Ideologie setzte sich in den achtziger Jahren in den Industrieländern durch. Überall wurden möglichst viele staatliche Regelungen abgeschafft, staatliche Leistungen kommerzialisiert, Sozialleistungen gekappt. Steuern gesenkt - vor allem die Steuern für die Unternehmen.
Als Ende der achtziger Jahre der Staatskapitalismus - genannt real existierender Sozialismus - zusammenbrach, eroberte der Neoliberalismus die Welt. In den neunziger Jahren wurden weltweit mehr Zölle, Handelsbeschränkungen und Kapitalverkehrskontrollen abgebaut als in der gesamten Menschheitsgeschichte zuvor. Die Politik ließ den Geist des Neoliberalismus aus der Flasche - und seither weht er„wo er will.
Die Macht der Multis
Die Globalisierung der Wirtschaft hat den multinational tätigen Unternehmen eine ungeheure Macht beschert - über ihre Beschäftigten und über die Politik. Während die Gell
setze der Politik an den nationalen Grenzen enden (bestenfalls an europäischen), überspringen die Banken und Produzenten nationale Grenzen in wenigen Minuten oder in wenigen Wochen. Die großen Unternehmen können die Politiker verschiedener Länder gegeneinander ausspielen. Sie können hier Geld verdienen und es dort versteuern, wo die Steuern niedrig sind. Sie können hier Arbeitsplätze schaffen und dort Arbeitsplätze vernichten. Sie können ganze Fabrikhallen und die dazugehörigen Arbeitsplätze in andere Länder verlagern oder die gesetzlichen Spielräume nutzen, um ihre Belegschaften durch Billigwerker aus den Billiglohnländern der Europäischen Union zu ersetzen. Die Wirtschaft agiert - die Politik reagiert.
Höhere Renditen, weniger Arbeitsplätze
Global wurde nicht nur die Produktion, global wurden vor allem auch die Finanzmärkte. An den internationalen Börsen wächst die Geldmenge wesentlich schneller als die Menge an Waren und Dienstleistungen, die weltweit produziert werden. Diese Schwemme an Spekulationskapital und der Börsenboom zur Jahrtausendwende haben die wirtschaftlichen Bedingungen und das Denken in den Chefetagen der großen Unternehmen grundlegend verändert. Noch vor 25 Jahren begnügten sich Unternehmen mit durchschnittlichen Renditen von zwei bis fünf Prozent. Inzwischen sind die Rendite-Erwartungen an den Börsen stark gestiegen. Unternehmen, die nicht 25 Prozent Rendite vorweisen, gelten schnell als Übernahmekandidaten. Dies hat Folgen. Den Unternehmen ist oft jedes Mittel Recht, um dieses Renditeziel zu erreichen. So schließen Konzerne Filialen, obwohl diese schwarze Zahlen schreiben, weil der Gesamtkonzern die angestrebte Rendite nicht erreicht. Andere Unternehmen wie die Deutsche Bank AG bauen Arbeitsplätze ab, um die Rendite auf die geforderte Marke zu steigern.
Politik wie im Fußballstadion
Die Politik versucht kaum mehr, diese Entwicklung mitzugestalten. Im Gegenteil. Sie folgt den Sachzwängen und tritt in einen harten Wettbewerb mit anderen Ländern um geringere Steuern und geringere soziale Standards. Überall senken die Regierungen die Steuern für Unternehmen, damit diese in ihren Grenzen investieren. Überall bauen die Regierungen soziale Leistungen ab, um den Unternehmen die Kosten zu senken. Daraus resultiert ein Teufelskreis nach unten. Mit den Steuersätzen sinken die Steuereinnahmen - und dies zwingt die Politik zu Einsparungen. Mit abnehmender sozialer Sicherung wächst die Angst der Menschen -und das Angstsparen. Aus dem Versuch eines Staates, seine Lage durch Verschlechterung zu verbessern, wird ein kollektives Problem. Politik wie im Fußballstadion: Ein Zuschauer steht auf, um besser zu sehen. Dann sieht er auch besser - allerdings nur so lange, bis alle anderen Zuschauer auch aufgestanden sind. Dann sehen alle wieder gleich schlecht, aber alle müssen stehen.
Deutschland im Teufelskreis
Die Folgen dieser Entwicklung zeigen sich in Deutschland. Die Arbeitsgesellschaft löst sich langsam auf. Die Zahl der Arbeitslosen, Minijobber, Scheinselbstständigen und Honorarkräfte nimmt zu, die der sozialversichert Beschäftigten dagegen ab. In vielen Wirtschaftsbereichen sinken die Löhne, in anderen sind sie seit Jahren nicht gestiegen. Bund, Länder und Gemeinden kürzen zudem ihre Ausgaben, weil sie weniger Steuern einnehmen - und bauen Arbeitsplätze ab. Sinkende Einkommen und mehr Arbeitslose dämpfen die Kauflust. Da ihre Produkte und Dienste niemand haben will, investieren die Unternehmen nicht in neue Arbeitsplätze, obwohl sie teilweise im Geld schwimmen, weil sie weniger Steuern zahlen und ihre Kosten gesenkt haben. So fließt immer mehr Kapital auf die Finanzmärkte und treibt dort die Rendite-Erwartungen in die Höhe. Um diese zu erfüllen, werden wieder Arbeitsplätze vernichtet. Ein Teufelskreis nach unten. Einige werden dabei immer reicher, immer mehr Menschen werden ausgegrenzt. Die Gesellschaft droht zu zerbrechen. Sozialstaat und Demokratie sind bedroht.
Nach uns die Sintflut?
Dieser neoliberale Kapitalismus bedroht die Zukunft der Menschen. Die rasante technische Entwicklung ersetzt immer mehr Arbeitsplätze. Der Arbeitsmarkt droht immer stärker aufzuweichen - und mit ihm jene sozialen Sicherungssysteme, die über den Faktor Arbeit finanziert werden. Für Wirtschaftsliberale ist die Konsequenz einfach: Sie wollen auch die sozialen Sicherungssysteme privatisieren. Doch dadurch werden die Lebensrisiken der Menschen privatisiert - und diese Lebensrisiken werden wachsen. Die globale Konkurrenz wird nicht nachlassen. China, Indien, andere asiatische, aber auch lateinamerikanische Länder werden zu großen Wirtschaftsmächten. Ihre Produkte erobern die Märkte der Industrieländer. Das weltweite Wirtschaftswachstum verbraucht die Ressourcen der Erde und erwärmt das Weltklima. Es wird auch die Preise zahlreicher Rohstoffe in die Höhe treiben - allen voran den 01-preis. Steigende Preise für ihr Lebenselixier werden Industrieländer wie Deutschland umso stärker treffen, je tiefer die sozialen Gegensätze sind und je später sie diese Herausforderungen annehmen. Ein Wirtschaftssystem, das sich ausschließlich an betriebswirtschaftlichen Vorgaben und privaten Renditezielen orientiert, und eine Politik, die nur diesen Vorgaben folgt, werden diese Herausforderungen nicht bewältigen können. Die Kapitalismus-Debatte ist überfällig - denn Sozialstaat und Demokratie sind akut bedroht.
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