Aus der Geschichte lernen



Paul Krugman, Nach Bush, Das Ende der Neokonservativen und die Stunde der Demokraten, (The Conscience of a Liberal) Frankfurt / New York 2008, 
S. 55 ff.:

Über die historischen Einkommen der Reichen wissen wir besser Bescheid als über den Rest der Bevölkerung, weil die Reichen seit 1913 Einkommensteuer zahlten und dabei der Bundesregierung Einblick in ihre finanzielle Lage gewährten. Aus den Steuerdaten geht hervor, dass es bis Mitte der dreißiger Jahre oder noch später keine Tendenz zu nachlassender Ungleichheit gab: Als Franklin D. Roosevelt die Antrittsrede zu Beginn seiner zweiten Amtszeit hielt, in der er sagte, ein Drittel des Volkes lebe noch immer in Armut, deutete kaum etwas darauf hin, dass die wirtschaftliche Stellung der Reichen weniger beherrschend gewesen wäre als vor dem Ersten Weltkrieg. Doch nur zehn Jahre später waren die Reichen eindeutig zurückgestuft: Der scharfe Einkommensrückgang in der Spitzengruppe, der für die fünfziger Jahre belegt ist, war bereits 1946 oder 1947 erfolgt. Die relative Verarmung der wirtschaftlichen Elite vollzog sich nicht allmählich, sondern recht plötzlich.

Dieser plötzliche Vermögensrückgang der Wohlhabenden lässt sich weitgehend mit nur einem Wort erklären: Steuern.

Das muss man sich folgendermaßen vorstellen. Vor dem Krieg stammten hohe Einkommen aus anderen Quellen als heute. Beziehen die Wohlhabenden von heute ihr Einkommen oft aus abhängiger Beschäftigung (denken Sie an Vorstandsvorsitzende und ihre Aktienoptionen), so waren die Verhältnisse in den zwanziger Jahren einfacher: Die Reichen waren reich dank der Erträge aus dem Kapital, das ihnen gehörte. Und da das Einkommen aus Kapital an einen Bruchteil der Bevölkerung ging - im Jahr 1929 fielen 70 Prozent der Dividenden in Form von Gratisaktien nur 1 Prozent der Amerikaner zu -, entsprach die Aufteilung der Einkommen zwischen den Reichen und allen anderen weitgehend der Aufteilung des Volkseinkommens in Löhne und Kapitalerträge.

Man könnte daher annehmen, der scharfe Rückgang des Anteils der Wohlhabenden am amerikanischen Volkseinkommen sei Ausdruck einer großen Verschiebung in der Verteilung der Einkommen vom Kapital zur Arbeit gewesen. Genau das aber war nicht der Fall. 1955 gingen 69 Prozent des im privaten Sektor verdienten Einkommens vor Steuern an die Arbeit, 31 Prozent an das Kapital - ein geringer Unterschied zur Aufteilung von 1929, die 67 zu 33 betrug.

Doch während sich von den zwanziger zu den fünfziger Jahren an der Aufteilung des Vorsteuereinkommens zwischen Kapital und Arbeit kaum etwas änderte, kam es in der Aufteilung des Nachsteuereinkommens zwischen denen, die ihr Einkommen hauptsächlich aus Kapital bezogen, und denen, die überwiegend auf Lohn angewiesen waren, zu grundlegenden Veränderungen.

In den zwanziger Jahren waren Steuern für die Reichen von untergeordneter Bedeutung. Der höchste Einkommensteuersatz betrug nur 24 Prozent, und da selbst auf die größten Vermögen nur 20 Prozent Erbschaftsteuer erhoben wurden, konnten sich reiche Dynastien mühelos behaupten. Doch mit dem Anbruch des New Deal mussten die Reichen Steuern hinnehmen, die nicht nur sehr viel höher waren als in den zwanziger Jahren, sondern auch hoch nach heutigen Maßstäben. Der Spitzen-Einkommensteuersatz (derzeit nur 35 Prozent) stieg in der ersten Amtszeit Roosevelts auf 63 und in der zweiten auf 79 Prozent. Als die Vereinigten Staaten Mitte der fünfziger Jahre vor den Ausgaben des Kalten Krieges standen, stieg er auf 91 Prozent.

Überdies entfielen diese höheren persönlichen Steuern auf Kapitalerträge, die erheblich vermindert worden waren nicht durch ein Sinken der Gewinne, die von Unternehmen verdient wurden, sondern der Gewinne, die sie behalten durften: Die durchschnittliche Bundessteuer auf Unternehmensgewinne stieg von weniger als 14 Prozent im Jahr 1929 auf über 45 Prozent im Jahr 1955.

Ferner fanden jene, die auf Einkommen aus Kapital angewiesen waren, dass ein Großteil davon weggesteuert wurde, und es fiel ihnen immer schwerer, ihren Besitz an ihre Kinder weiterzugeben. Der Spitzen-Erbschaftsteuersatz stieg von 20 auf 45, dann auf 60, später auf 70 und schließlich auf 77 Prozent. Auch dies führte dazu, dass die Konzentration des Vermögensbesitzes erheblich nachließ: Die reichsten 0,1 Prozent der Amerikaner verfügten 1929 über mehr als 20 Prozent der Vermögen des Landes, Mitte der fünfziger Jahre dagegen nur noch über etwa 10 Prozent.

Was geschah also mit den Reichen? Offen gesagt wurde ein Großteil, vielleicht sogar der größte Teil ihres Einkommens durch den New Deal weggesteuert. Kein Wunder, dass Franklin D. Roosevelt als ein Verräter seiner Klasse galt.

Arbeitnehmer und Gewerkschaften

Waren die Reichen die größten Opfer der Großen Kompression, so waren Arbeiter, vor allem Industriearbeiter, die größten Nutznießer. Die 30 Jahre, die auf die Große Kompression folgten, von der Mitte der vierziger bis zur Mitte der siebziger Jahre, waren das goldene Zeitalter der manuellen Arbeit.

Faktisch verdienten amerikanische Männer mit Highschool-Abschluss, aber ohne College, Ende der fünfziger Jahre inflationsbereinigt in etwa so viel wie Arbeiter mit ähnlichen Qualifikationen heute. Und ihr relativer Status war natürlich sehr viel höher: Arbeiter mit besonders guten Stellen verdienten oft ebenso viel oder mehr als viele Fachleute mit College-Abschluss.

 

 

S. 69 f.:

Vom Radikalismus zur Ansehnlichkeit

In den dreißiger Jahren galt der New Deal tatsächlich als sehr radikal - und die New Dealer selbst waren gewillt, sich der Sprache des Klassenkampfes zu bedienen. Wenn man die Rede liest oder besser noch hört, die Franklin D. Roosevelt am Vorabend der Wahl von 1936 im Madison Square Garden hielt (die Aufzeichnung ist im Internet zugänglich), wird einem bewusst, wie zaghaft und manierlich der moderne Liberalismus geworden ist. Wer heute dafür eintritt, den Mindestlohn anzuheben oder die Steuern für die Reichen zu erhöhen, versäumt keinesfalls, der Öffentlichkeit zu versichern, dass er nichts gegen die Reichen hat und nicht für den Klassenkampf ist. Roosevelt dagegen feuerte auf die Übeltäter mit den tiefen Taschen aus allen Rohren:

      .            Wir mussten uns der alten Feinde des Friedens erwehren - des Wirtschafts- und Finanzmonopols, der Spekulation, der rücksichtslosen Banken, der Klassenfeindschaft, des Partikularismus, des Kriegsgewinnlertums. 
Sie betrachteten die Regierung der Vereinigten Staaten schon als ein bloßes Anhängsel ihrer eigenen Geschäfte. Wir wissen jetzt, dass die Regierung des organisierten Geldes genauso gefährlich ist wie die Regierung des organisierten Pöbels.
Nie zuvor in unserer gesamten Geschichte waren diese Kräfte so gegen einen Kandidaten geeint wie heute. Sie sind sich einig in ihrem Hass auf mich - und ihr Hass ist mir sehr recht.

Roosevelt übertrieb nicht, als er davon sprach, dass die Plutokraten ihn hassen - und sie hatten dazu allen Anlass. Der New Deal erlegte, wie ich im Kapitel 3 gezeigt habe, den Kapitalgesellschaften und den Reichen eine schwere Steuerlast auf, und er sorgte für eine Verringerung des Einkommensgefälles, die eine beträchtliche Absenkung des Nachsteuereinkommens der Spitzenverdiener einschloss.

Quelle:  http://www.meudalismus.dr-wo.de/html/new_deal_-_krugman.htm

Das Fach (kritische) "Wirtschaftspolitik" soll eliminiert werden

Deutschlandfunk vom 27.04.2009
Rettet das Fach Wirtschaftspolitik

Mehr als 80 VWL-Professoren schlagen in einem Zeitungsaufruf Alarm

Jürgen Backhaus im Gespräch mit Regina Brinkmann

Lahmende Wirtschaft, angeschlagene Banken und Unternehmen: Noch ist das ganze Ausmaß und die Dauer der weltweiten Wirtschaftskrise gar nicht auszumachen. Eine Situation, die nicht nur Bürger, sondern auch Politiker bisweilen hilflos macht. Da ist guter Rat gefragt, aber ausgerechnet die wirtschaftpolitische Expertise scheint sich an den Hochschulen mehr und mehr zum ungeliebten Stiefkind zu entwickeln. 

Anlass für mehr als 80 Professoren der Volkswirtschaftslehre Alarm zu schlagen. In der heutigen Frankfurter Allgemeinen Zeitung ist von ihnen ein Aufruf zu lesen. Dort heißt es: 

Professuren für Wirtschaftspolitik sollen zweckentfremdet werden und betriebswirtschaftliche Bachelor-Studiengänge sehen wirtschaftspolitische Lehrveranstaltungen nicht mehr vor. 

Einer der Unterzeichner des Aufrufes ist Jürgen Backhaus, Professor für Finanzwissenschaften und Finanzsoziologie an der Uni Erfurt. 

Das vollständige Gespräch mit Jürgen Backhaus können Sie mindestens bis zum 27. September 2009 in unserem Audio-on-Demand-Player hören. 


http://www.dradio.de/dlf/sendungen/campus/956168/

Schlaraffenland von E. Drewermann

Wie im Schlaraffenland

IRREFÜHRENDE HOFFNUNG

In den vergangenen 30 Jahren hat sich das Volksvermögen in Deutschland fast verdreifacht. Wir könnten leben wie im Schlaraffenland. Aber: zehn Prozent der Bevölkerung halten inzwischen mehr Besitz in Händen als 60 Prozent der übrigen, und so haben wir über zwei Millionen Kinder, die in Armut aufwachsen, und etwa 15 Millionen Menschen, die mit Hartz IV, Sozialhilfe und minimalen Renten nicht zu leben und nicht zu sterben wissen. Mindestlöhne von acht Euro? Nein, das würde ja die Arbeitsplätze mit den Fünf-Euro-Jobs gefährden. Lieber soll der Steuerzahler doch den Unternehmern noch die Ausbeutung von Leiharbeitern finanzieren - ein wirklicher Beitrag zur Senkung der Arbeitslosenzahlen, wie wir wissen. Dass Millionen Menschen mit all der oft entwürdigenden Arbeit - mobil, flexibel, willig, stets als Sklavenarmee des Kapitals verfügbar - nicht einmal genug verdienen, um das Existenzminimum zu finanzieren, hat allerdings seit Jahren einen nicht so schönen Nebeneffekt: die "Binnennachfrage" lahmt. Und wenn nun noch dem Exportweltmeister Deutschland durch die Finanzkrise die Aufträge wegbrechen, muss die Politik reagieren. Mit einem Mal stellt die Regierung Merkel 50.000.000.000 Euro als Konjunkturspritze zur Verfügung, zur Rettung von einer Million Arbeitsplätzen, wie es heißt - 50.000 Euro also für einen Arbeitsplatz. Und an wen geht das Geld? Genau! An die Hausbesitzer, damit sie billiger an "schadstoffarme" Autos kommen. Und, ach ja, auch neue Straßen sollen gebaut werden. So rettet man das Klima und die Umwelt und die Konjunktur. Dann muss man den Volkszorn nur noch auf die überhöhten Managergehälter lenken und rettet damit noch einmal das Gesamtsystem, glaubt man jedenfalls. Doch das System ist nicht zu retten. Denn es denkt und lenkt vorbei an den Menschen, die es in weltweiter Konkurrenz gegeneinander in Stellung bringt. Der Einzug der Dritten in die Erste Welt ist längst im Gange - da helfen kein Mauerbau wie an der Grenze zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko (mit 400 Toten jährlich) und auch keine Söldner und Schnellboote im Mittelmeer, wo im Jahr Tausende bei dem Versuch ums Leben kommen, als Migranten aus Nord- oder Westafrika ihr Glück in Europa zu finden. So zeigt sich derzeit überdeutlich, was Kapitalismus im Prinzip bedeutet: maximale Profitsteigerung durch maximale Ausbeutung von Menschen und natürlichen Ressourcen. Nicht private Gier ist der Grund, sondern das Ausleseprinzip eines Wettbewerbs der wechselseitigen Vernichtung. Liberalisierung und Deregulierung der Märkte sind das Credo von Weltbank und Internationalem Währungsfonds. Der Missionierungsauftrag von Milton Friedman und den Chicago-Boys hat ganze Regionen verelenden lassen und Millionen Menschen in den Untergang getrieben. Die strukturelle Gewalt, die damit verbunden ist, bedarf ständig erweiterter Militäreinsätze. Auf 33 Milliarden Euro wird sich 2009 der Rüstungshaushalt allein der Bundesrepublik belaufen - gedacht für teilweise völkerrechtswidrige Einsätze der NATO auf dem Balkan und in Afghanistan oder für Antiterror-Aufträge vor der Küste Somalias. Die Vereinten Nationen rechnen uns vor: Mit Investitionen von nur 20 Milliarden Euro könnte man allen Menschen sauberes Trinkwasser verschaffen. Es gäbe eine Menge zu tun, doch dann müssten wir unser gesamtes Weltwirtschaftssystem ändern in Richtung all dessen, was Menschen wirklich brauchen. Weg von der Idee, wie am schnellsten für ganz wenige ganz große Gewinne einzufahren sind. Auch das gesamte Geldsystem müsste geändert werden. Die Finanzmärkte sind kollabiert, weil aus Krediten wie Kreditversicherungen "komplexe Produkte" - Derivate genannt - entwickelt wurden, damit sich die Geldbesitzer nach dem Monte-Carlo-Prinzip noch schneller und noch ergiebiger mit Renditen von bis zu 30 Prozent ihrer Einsätze und auf Kosten ihrer Gläubiger bereichern konnten. 19 Millionen Hausbesitzer, die seit 2001 Kredite in Anspruch nahmen, stehen heute in den USA buchstäblich auf der Straße. Die Sache will man staatlich besser beaufsichtigen, aber das Kreditgeschäft selbst ist der Fehler. Bei Verzinsungen von 15 Prozent mit Menschen Geschäfte zu machen, die kein Geld haben und deshalb Kredite brauchen - davon muss das monetäre System schwer in Mitleidenschaft gezogen werden. Zinsen sind die effektivste Methode, nach der sich Eigentum von unten nach oben permanent umverteilen lässt. Man braucht etwa 150.000 Euro auf der Bank, um vom Zinssystem zu profitieren. Wir sollten daher dreierlei auf einmal abschaffen: alle Formen der modernen Lohnsklaverei, die "Option" zum Kriegführen und den Zinswucher.

 

Eugen Drewermann ist Theologe, Psychoanalytiker, Schriftsteller und seit Jahrzehnten einer der bekanntesten Kritiker der röm.-kath. Kirche in Deutschland.

 http://www.freitag.de/2008/45/08450802.php 

Neoliberalismus stoppen


  "Nur die dümmsten Kälber wählen ihre Metzger selber"

Strukturelle Gewalt - "Ich hab damit ja nichts zu tun"????


 
Bertolt Brecht

»Infolge der globalisierten, wild wütenden Kapitalmärkte ist eine Weltordnung entstanden, die den Lebensinteressen der großen Mehrheit zuwiderläuft. Von 6,2 Milliarden Menschen leben 4,8 in einem der 122 so genannten Entwicklungsländer, meist unter unwürdigen Bedingungen. 100 000 Menschen sterben jeden Tag an Hunger oder seinen unmittelbaren Folgen. Alle sieben Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren. Dieser tägliche, stille Völkermord geschieht auf einem, Planeten, der von Reichtum überquillt. Dabei könnte die Erde problemlos 12 Milliarden Menschen hinreichend ernähren. Hunger ist kein Schicksal. Hinter jedem Opfer steht ein Mörder. Wer Geld hat, isst und lebt; wer keines hat, hungert, wird invalid oder stirbt.« Jean Ziegler

Rentenlüge - "Wessen Brot ich ess, dessen Lied ich sing"

zum Vergrößern Bild anklicken
Quelle: Verdi, Mythos Demographie
Vollständige, 24-seitige, sehr lesenswerte Broschüre unter: 
http://wipo.verdi.de/broschueren/mythos_demografie/data/broschuere_demografie


Rentenangst

Der Kampf um die Altersversorgung

Kritiker überbieten sich schon seit langem in ihren Nachrufen auf das gesetzliche Rentensystem. Immer wieder wird verkündet, dass allein eine private Absicherung die Rentner von morgen vor dem Absturz retten könne. Aber: Ist die gesetzliche Rente tatsächlich so schlecht wie behauptet? Dietrich Krauß und Ingo Blank schauen sich verschiedene Altersvorsorge-Modelle an.

Die aktuelle Diskussion um die Riester-Rente hat noch einmal gezeigt: Viele der heute tätigen Menschen werden im Alter vor großen finanziellen Problemen stehen. Denn die wachsende Zahl der Senioren und viele politische Entscheidungen der vergangenen Jahre werden dazu führen, dass das Niveau der gesetzlichen Rente systematisch sinken wird. Immer wieder wird deshalb verkündet, dass allein eine private Absicherung die Rentner von morgen vor dem Absturz retten könne. "Eigenvorsorge" heißt das Stichwort. Kapitaldeckung statt Umlagefinanzierung ist das Konzept, das dahinter steht.

SENDETERMIN

Phönix, 15.04.09, 

Aber: Ist die gesetzliche Rente tatsächlich so schlecht wie behauptet? Sicher ist: Ohne Generationenvertrag wäre es überhaupt nicht möglich gewesen, nach dem Krieg ein System aufzubauen, das vom ersten Tag an funktionierte. Und auch nach dem Zusammenbruch der DDR hätten die Rentner im Osten in die Röhre geschaut, wenn man sie nicht sofort in die gesetzliche Rente integriert hätte.

Beispiele aus anderen Ländern zeigen zudem: Private Systeme sind oft weder sicherer noch günstiger. Seit die Aktienmärkte nicht mehr automatisch steigen, schaffen es viele Pensionspools nicht mehr, die erforderlichen Renditen zur Finanzierung der Renten zu erwirtschaften. Die hauseigenen Pensionskassen etlicher amerikanischer Großunternehmen haben in den vergangenen Jahren enorme Defizite angehäuft, die sie dann mit allen möglichen Tricks auf ihre Pensionäre abwälzen. Warum steht die gesetzliche Rente trotzdem so unter Beschuss? Und wer hat überhaupt Vorteile davon, dass das Solidarsystem immer weiter gekappt wird?

Dokumentation von Ingo Blank und Dietrich Krauß (2008)


1. Teil  29 Minuten

2. Teil 16 Minuten


Titel: Norbert Blüm spießt einmal mehr die Fehlinformationen zur gesetzlichen Rente auf. 

Datum: 21. November 2008 um 15:44 Uhr
Rubrik: Riester-Rürup-Täuschung
Verantwortlich: Albrecht Müller

Er hat einen Leserbrief an den Bonner Generalsanzeiger geschrieben, den Sie für Ihre eigene Information und zum Gespräch mit anderen über die Altersvorsorge prima nutzen können. Siehe Anlage 1. Darin ist auch die Information enthalten, dass Argentinien die ihm vom Internationalen Währungsfonds (IMF) aufgedrückte Privatisierung der Altersversorgung rückgängig macht und verstaatlicht. Von Chile wissen wir schon länger, in welcher Krise sich die private Altersversorgung befindet. Siehe Anlage 2. Albrecht Müller.

Anlage 1.
Dr. Norbert Blüm
Bonn, 21. November 2008

An den Chefredakteur des
General-Anzeigers
Herrn Andreas Tyrock

53100 Bonn

Sehr geehrter Herr Chefredakteur Tyrock,

mit heiterem Erstaunen lese ich den Bericht im heutigen General-Anzeiger über das 63. Buß- und Bettagsgespräch des Instituts für Gesellschaftswissenschaften.

Meine Erheiterung bezieht sich darauf, dass der Vorsitzende der Jungen Union Philipp Missfelder mir endlich zugesteht, dass die Aussage: „Die Rente ist sicher“ richtig sei. Spät kommt die Erkenntnis, doch sie kommt. Nach dem rentenpolitischen Fachblatt „BILD“ (am 17.09.2008 S. 2) zeigt jetzt auch der Renten- und Alters-spezialist der Jungen Union Missfelder Einsicht. Es blieb auch nichts anderes übrig. Weltwelt erfährt das Lieblingsprojekt der Neoliberalen, nämlich die Privatisierung der Altersvorsorge, dem wir hierzulande die Riester-Rente verdanken, ihr globales Waterloo. Gerade entnehme ich den Frühnachrichten des Deutschlandfunks, dass Argentinien, der einstige Musterschüler von Weltbank und Internationalem Währungsfonds, ihr Vorzeigeobjekt, die private Alterssicherung, verstaatlicht hat,
und zwar mit der plausiblen Erklärung, die Altersrenten den Turbulenzen des Weltfinanzmarktes zu entziehen. Der Nachbar Chile ist seit geraumer Zeit in ähnlicher Lage und hat seinem maroden kapitalgedeckten Altersversorgungssystem Zügel angelegt. Jedenfalls ist auch dort die kapitalgedeckte Altersrente „im Eimer“.
In den USA ist General Motors von seinen Pensionsfonds ins

Schleudern gebracht worden. Das Desaster ist noch größer als bekannt. 80.000 Pensionsfonds sind im Laufe der Zeit in den USA zusammengebrochen. Spektakulär bei Enron, sonst meistens lautlos als stille Beerdigung.

Der guten Alten Rentenversicherung hierzulande passierte das Gott sei Dank nie. Sie war immer zur Stelle. Zwei Weltkriege, Inflation und Währungsreform hat sie überlebt. Keine Privatversicherung der Welt hätte die Deutsche Einheit sozialpolitisch geschultert. Das schaffte nur die „alte“ Rentenversicherung. Soweit, so gut.

Mein Erstaunen bezieht sich allerdings auf Missfelders Behauptung, ich hätte nie etwas über Rentenhöhe gesagt. Hier muss es sich bei Missfelder um einen gedanklichen Aussetzer handeln oder um eine 16-jährige Unaufmerksamkeit. Ich habe 16 Jahre lang immer das Rentenniveau angegeben, mit dem zu rechnen ist.
64 Prozent Nettorentenniveau war die unterste Zielgröße, und die ergibt eine Rente, die in der Regel deutlich über dem Sozialhilfeniveau liegt, was man von der durch Riester-Rente ramponierten Rentenversicherung leider heute nicht mehr sagen kann.

Die einschneidende Niveau-Absenkung ist das Ergebnis einer neuen Rentenpolitik, die eine Beitragshöchstgrenze von 22 Prozent festgesetzt hat. Mit diesem Beitragssatz werden dann viele Hungerrenten entstehen. Das hat nichts mit dem Rentensystem zu tun, sondern damit, dass der Rentenversicherung die für eine „anständige“ Rente notwendigen Beiträge vorenthalten werden. Es ist halt so. Wenn der Motor stehen bleibt, weil nicht ausreichend Benzin im Tank ist, ist nicht der Motor schuld, wenn das Auto nicht weiterfährt.

Bis 1998 war ein „Sicherungsziel“, nämlich das Rentenniveau, Orientierungsgröße der Rentenversicherung. Jetzt ist ein „Beitragshöchstsatz“ die feststehende Größe, und alles andere sind abhängige Variablen. Das ist ein Seitenwechsel in der Rentenpolitik.

Die Behauptung, die Beitragshöchstgrenze sei mit Rücksicht auf die Belastungsfähigkeit der jungen Generation unumgänglich, ist ein Trugschluss.
Zu den 22 Prozent Rentenbeitrag muss zur Berechnung der Gesamtbelastung
noch 4 Prozent Riester-Beitrag hinzugezählt werden. Das ergibt 26 Prozent Gesamtlastung und liegt damit 2 Beitragspunkte höher, als die Rentenversicherung gebraucht hätte, um 64 Prozent Rentenniveau zu erreichen.

Das Paradox der Riester-Rente ist, dass sie keine Antwort auf die Alterssicherheit derjenigen hat, die sich keine Riester-Rente leisten können, oder wenn sie sich eine vom Munde absparen, dann in Gefahr geraten, diese später auf die Grundrente angerechnet zu bekommen. Dann haben diese Riester-Rentner für den Staatshaushalt gespart.

Die Rente sinkt, weil mit der Riester-Rente das Rentenniveau abgesenkt wurde. „Riester-Treppe“ heißt der Fachbegriff, und die geht nach unten, und zwar auch
bei jenen, die das Absenken der Renten nicht durch Riester-Rente kompensieren können. Die Schwächeren bekommen also eine Rechnung für Leistungen präsentiert, welche die Stärkeren erhalten. Das ist eine auf den Kopf gestellte Solidarität und eine Premiere in der Geschichte der deutschen Rentenpolitik.

Was den „Pump“ angelangt, der nach Missfelders Meinung die Rente mitfinanziert, so muss es sich bei dieser Behauptung offenbar um eine Verwechslung handeln.
Der „Bundeszuschuss“ ist kein Kredit des Staates für die Rentenversicherung, sondern eine Erstattung des Bundes für Fremdleistungen der Rentenversicherung.

Wie würde Herr Missfelder eigentlich die 13 Milliarden Euro bezeichnen, mit dem
der Bund die Private Altersvorsorge fördert. Dabei kommt zu guter Letzt das Geld nicht den Versicherten zugute, sondern bei Licht betrachtet „Allianz & Co“. Die Vertragsabschlusskosten fressen, wie kluge Leute nachgerechnet haben, nämlich den staatlichen Zuschuss auf. Die Verwaltungskosten der Privatversicherung sind
im Übrigen 10 Mal (und mehr) höher als die der Rentenversicherung.

Die staatliche Förderung der Privatrente finanziert sich – nebenbei bemerkt – durch einen verminderten Bundeszuschuss zur Rente, der sich daraus ergibt, dass das Rentenniveau an den Mittelbau (?) des Bundeszuschusses gekoppelt ist, relativ abgesenkt wird ??? Zum zweiten Mal zahlen die Schwachen für die Starken. Das ist Sozialpolitik als Geisterfahrerei.

Dies und auf Wunsch noch mehr zum Thema: „Die Rente ist sicher“.

Ich bin Ihnen sehr dankbar, wenn Sie diesen Leserbrief veröffentlichen.

Mit freundlichen Grüßen
Ihr

Blüm Unterschrift




Naiver Realismus

Wie wirklich ist die Wirklichkeit?

1. Für den naiven Realisten ist der Gedanke an die Mög­lichkeit einer »jenseits« unserer Welt existierenden Wirklichkeit bereits durch den Hinweis auf seine unmittelbare Erfahrung widerlegt. Wer nur an das glauben will, was er »anfassen« kann, nur das, von dessen Realität er sich dadurch vergewissern zu können meint, dass er es sehen, hören oder auf andere Weise wahrnehmen kann, für den bezieht sich alles Reden über eine solche Möglichkeit auf ein bloßes Hirngespinst.

Das objektive Fundament jedoch, auf das ein Realist solchen Kalibers sich beruft ist weitaus weniger solide, als ein so ungebrochenes Vertrauen auf wahrnehmbare Objektivität es für möglich hält. Der »naive Realismus« ist seit mehr als 2000 Jahren, seit Plato, als Illusion durchschaut. Welches sind die Argumente?

Stellen wir uns die Frage, ob es eigentlich dunkel im Kosmos würde, wenn alle Augen verschwänden? Fragen dieser Art stehen am Anfang aller erkenntnistheoretischen Überlegungen. »Hell« und »dunkel sind, wie jeder feststellen kann, der sich die Mühe macht, darüber nachzudenken, nicht Eigenschaften der Welt, sondern »Seherlebnisse«: Wahrnehmungen, die entstehen, wenn elektromagnetische Wellen bestimmter Länge - zwischen 400 und 700 Millionstel Millimetern - auf die Netzhaut von Augen fallen. Wir haben allen Grund zu der Annahme, dass das auch für tierische Augen gilt, und wir wissen sogar, dass die Länge der den Eindruck »hell« hervorrufenden Wellen bei manchen Tieren von den Frequenzen abweicht, die für menschliche Augen gelten. [...] Der wirklichen Situation wird man nur dann gerecht, wenn man annimmt, dass in der Außenwelt elektromagnetische Wellen der verschiedensten Längen (oder was auf dasselbe herausläuft, »Frequenzen«) existieren, dass unsere Augen auf einen (vergleichsweise außerordentlich kleinen) Ausschnitt dieses »Frequenzbandes« ansprechen und dass unser Gehirn, genauer: der »Sehrinde« genannte Teil unseres Großhirns, die durch das Ansprechen der Netzhaut ausgelösten Signale dann auf irgendeine, abso­lut rätselhaft bleibende Weise in optische Erlebnisse übersetzt, die wir mit den Worten »hell« oder »dunkel«, mit verschiedenen Farbbezeichnungen usw. beschreiben. [...]

Auf dem ganzen Wege, der zwischen Netzhaut und Sehrinde liegt, wird es nicht hell, auch nicht in der »Endsituation". "Hell" ist erst das optische Erlebnis hinter jener rätselhaft bleibenden Grenze , die körperliche Vorgänge und psychische Erlebnisse für unser Begriffsvermögen voneinander trennt. Hell ist es daher auch nicht in der Außenwelt, nicht im Kosmos, und zwar ganz unabhängig davon, ob es Augen gibt oder nicht. 

Ist der Kosmos in Wahrheit also dunkel? Diese Möglichkeit hatte die frage vorausgesetzt. Auch das scheidet aus. Das Eigenschaftswort »dunkel« nämlich bezieht sich aus den gleichen Gründen nicht auf eine Eigenschaft der Außenwelt, sondern beschreibt ebenfalls ausschließlich ein Seherlebnis. Man könnte auch sagen: Da der Kosmos nicht hell sein kann, kann er auch nicht dunkel sein, denn das eine ist nur als das Gegenteil des anderen denkbar.

2. Man sieht, die scheinbar so simple Frage, ob es in der Welt ohne Augen dunkel wäre, hat es in sich. Wie bei­läufig sind wir bei ihrer Erörterung auf alle wesentlichen Voraussetzungen der Problematik der so genannten Er­kenntnistheorie gestoßen. Wir haben, erstens, angenommen, dass es außerhalb des Erlebens eine reale Außen­welt tatsächlich gibt. Wir stellten, zweitens, fest, dass das, was wir erleben, nicht ohne weiteres als reale Eigenschaft dieser Außenwelt anzusehen ist. Und schließlich hat sich auch bereits gezeigt, dass es allem Anschein nach reale Eigenschaften dieser von uns vorausgesetzten Außenwelt gibt, die wir, wie zum Beispiel die außerhalb des engen Empfindlichkeitsbereichs unserer Netzhaut liegenden Frequenzen elektromagnetsicher Wellen, gar nicht wahr­nehmen können. [...]

Und als ob das alles noch nicht genug wäre: Selbst der - aller Wahrscheinlichkeit nach also nur winzige - Ausschnitt der Außenwelt, den wir überhaupt erfassen könnenwir uns von unseren Sinnesorganen und unserem Gehirn nun keineswegs etwa so vermittelt, »wie er ist«. In keinem Fall ist das, was in unserem Erleben schließlich auftaucht, etwa ein getreues "Abblild". Auch das wenige, was wir überhaupt wahrnehmen, gelangt vielmehr nicht ohne komplizierte und im Einzelnen völlig undurchschaubar bleibende Verarbeitung in unser Bewusstsein. Unsere Sinnesorgane bilden die Welt nicht etwa für und ab. Sie legen sie uns aus. Der Unterschied ist fundamental. 


Wenige Hinweise genügen, um sich davon zu überzeugen. Ein Fall wurde schon genannt: die Tatsache, dass Auge und Gehirn elektromagnetische Wellen in das Erlebnis »Licht« verwandeln und in verschiedene Farbeindrücke, je nach der Länge der am Augenhintergrund eintreffenden Wellen. Die Natur einer elektromagnetischen Welle hat nur das Geringste zu tun (Mit der einen entscheidenden Ausnahme, dass das eine die Ursache des anderen darstellt, sobald Augen und Gehirne mit im Spiele sind.) Helligkeit und elektromagnetische Wellen haben überhaupt keine Ähnlichkeit miteinander.

3. Das gleiche gilt für die verschiedenen Farben. Eine Wellenlänge von 700 Millionstel Millimetern hat mit dem Farberlebnis »Rot« genauso wenig zu tun wie die Wellenlänge 400 Millionstel Millimetern mit dem Farberlebnis »Blau«. Keinerlei Ähnlichkeit besteht hier auch zwischen dem Unterschied von nur 300 Millionstel Millimetern, wie er auf der einen, der körperlichen Seite zwischen beiden Längenbereichen liegt (und der sich im Gesamtspektrum verschwindend winzig ausnimmt), und dem sich auf der anderen, psychischen Seite aus diesem Unterschied ergebenden Kontrast zwischen den Farben Rot und Blau.

Ein letztes Beispiel: Es hatte eben geheißen, dass wir nicht fähig sind, elektromagnetische Wellen außerhalb des schmalen Bandes des optisch sichtbaren »Lichts« unmittelbar wahrzunehmen. Das stimmt nicht ganz, wenn man es genau nimmt. Die Ausnahme macht die ganze Angelegenheit aber nur noch verwirrender. Denn an einer etwas anderen, etwas langweiligeren Stelle des gleichen Spektrums, und zwar etwa zwischen einem tausendstel und einem ganzen Millimeter Wellenlänge, sprechen auf sie nicht unsere Augen, sondern Sinnesrezeptoren in unserer Haut an. Wir sehen diese Wellen nicht, fühlen sie aber. Wir nehmen sie als Wärmestrahlung wahr. Man muss sich klarmachen, was das bedeutet. Alle elektromagnetischen Wellen sind wesensgleich. Immer die vollkommen gleiche Art der Strahlung. Der einzige Unterschied besteht in der  Wellenlänge. 

Je nach der spezifischen Anpassungsform unserer Sinneszellen erleben wir bestimmte Frequenzen dieser Wellen dann als Licht oder verschiedene Farben - oder aber als strahlende Wärme. 

Von der »Abbildung« einer realen Welt, »so wie sie ist«, kann da ganz offensichtlich nicht mehr die Rede sein. Man sieht, der »naive Realist« ist in der Tat naiv. Das von ihm für so grundsolide gehaltene Konzept einer durch sinnliche Wahrnehmung überprüfbaren (objektivierbaren) Realität erweist sich im Handumdrehen als reine Illusion. So einfach liegen die Dinge nicht.         Hoimar von Ditfurth (Wissenschaftsjournalist ZDF)

 

Was ist WIRKLICHES Glück ? - Gegen Konsumismus als Ersatzbefriedigung


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Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral

In einem Hafen an einer westlichen Küste Europas liegt ein ärmlich gekleideter Mann in seinem Fischerboot und döst. Ein schick angezogener Tourist legt eben einen neuen Farbfilm in seinen Fotoapparat, um das idyllische Bild zu fotografieren: blauer Himmel, grüne See mit friedlichen schneeweißen Wellenkämmen, schwarzes Boot, rote Fischermütze. Klick. Noch einmal: klick. Und da aller guten Dinge drei sind und sicher sicher ist, ein drittes Mal: klick. 

Das spröde, fast feindselige Geräusch weckt den dösenden Fischer, der sich schläfrig aufrichtet, schläfrig nach einer Zigarettenschachtel angelt; aber bevor er das Gesuchte gefunden, hat ihm der eifrige Tourist schon eine Schachtel vor die Nase gehalten, ihm die Zigarette nicht gerade in den Mund gesteckt, aber in die Hand gelegt, und ein viertes Klick, das des Feuerzeuges, schließt die eilfertige Höflichkeit ab. Durch jenes kaum messbare, nie nachweisbare Zuviel an flinker Höflichkeit ist eine gereizte Verlegenheit entstanden, die der Tourist - der Landessprache mächtig - durch ein Gespräch zu überbrücken versucht. 

"Sie werden heute einen guten Fang machen.
Kopfschütteln des Fischers. 

"Aber man hat mir gesagt, daß das Wetter günstig ist.
Kopfnicken des Fischers. 

"Sie werden also nicht ausfahren?
Kopfschütteln des Fischers, steigende Nervosität des Touristen. Gewiß liegt ihm das Wohl des ärmlich gekleideten Menschen am Herzen, nagt an ihm die Trauer über die verpaßte Gelegenheit. 

"Oh, Sie fühlen sich nicht wohl?
Endlich geht der Fischer von der Zeichensprache zum wahrhaft gesprochenen Wort über. "Ich fühle mich großartig", sagt er. "Ich habe mich nie besser gefühlt." Er steht auf, reckt sich, als wolle er demonstrieren, wie athletisch er gebaut ist. "Ich fühle mich phantastisch."

Der Gesichtsausdruck des Touristen wird immer unglücklicher, er kann die Frage nicht mehr unterdrücken, die ihm sozusagen das Herz zu sprengen droht: "Aber warum fahren Sie dann nicht aus?
Die Antwort kommt prompt und knapp. "Weil ich heute morgen schon ausgefahren bin.

"War der Fang gut?
"Er war so gut, daß ich nicht noch einmal auszufahren brauche, ich habe vier Hummer in meinen Körben gehabt, fast zwei Dutzend Makrelen gefangen..." Der Fischer, endlich erwacht, taut jetzt auf und klopft dem Touristen beruhigend auf die Schultern. Dessen besorgter Gesichtsausdruck erscheint ihm als ein Ausdruck zwar unangebrachter, doch rührender Kümmernis. 
"Ich habe sogar für morgen und übermorgen genug", sagt er, um des Fremden Seele zu erleichtern. "Rauchen Sie eine von meinen?
"Ja, danke.

Zigaretten werden in die Münder gesteckt, ein fünftes Klick, der Fremde setzt sich kopfschüttelnd auf den Bootsrand, legt die Kamera aus der Hand, denn er braucht jetzt beide Hände, um seiner Rede Nachdruck zu verleihen. 

"Ich will mich ja nicht in Ihre persönlichen Angelegenheiten mischen", sagt er, "aber stellen Sie sich mal vor, Sie führen heute ein zweites, ein drittes, vielleicht sogar ein viertes Mal aus, und Sie würden drei, vier, fünf, vielleicht gar zehn Dutzend Makrelen fangen - stellen Sie sich das mal vor.
Der Fischer nickt. 

"Sie würden", fährt der Tourist fort, "nicht nur heute, sondern morgen, übermorgen, ja, an jedem günstigen Tag zwei-, dreimal, vielleicht viermal ausfahren - wissen Sie, was geschehen würde?
Der Fischer schüttelt den Kopf. 

"Sie würden sich spätestens in einem Jahr einen Motor kaufen können, in zwei Jahren ein zweites Boot, in drei oder vier Jahren vielleicht einen kleinen Kutter haben, mit zwei Booten und dem Kutter würden Sie natürlich viel mehr fangen - eines Tages würden Sie zwei Kutter haben, Sie würden...", die Begeisterung verschlägt ihm für ein paar Augenblicke die Stimme, "Sie würden ein kleines Kühlhaus bauen, vielleicht eine Räucherei, später eine Marinadenfabrik, mit einem eigenen Hubschrauber rundfliegen, die Fischschwärme ausmachen und Ihren Kuttern per Funk Anweisungen geben. Sie könnten die Lachsrechte erwerben, ein Fischrestaurant eröffnen, den Hummer ohne Zwischenhändler direkt nach Paris exportieren - und dann...", wieder verschlägt die Begeisterung dem Fremden die Sprache. 

Kopfschüttelnd, im tiefsten Herzen betrübt, seiner Urlaubsfreude schon fast verlustig, blickt er auf die friedlich hereinrollende Flut, in der die ungefangenen Fische munter springen. "Und dann", sagt er, aber wieder verschlägt ihm die Erregung die Sprache. 
Der Fischer klopft ihm auf den Rücken, wie einem Kind, das sich verschluckt hat. 
"Was dann?" fragt er leise. 

"Dann", sagt der Fremde mit stiller Begeisterung, "dann könnten Sie beruhigt hier im Hafen sitzen, in der Sonne dösen - und auf das herrliche Meer blicken."
"Aber das tu' ich ja schon jetzt", sagt der Fischer, "ich sitze beruhigt am Hafen und döse, nur Ihr Klicken hat mich dabei gestört.

Tatsächlich zog der solcherlei belehrte Tourist nachdenklich von dannen, denn früher hatte er auch einmal geglaubt, er arbeite, um eines Tages einmal nicht mehr arbeiten zu müssen, und es blieb keine Spur von Mitleid mit dem ärmlich gekleideten Fischer in ihm zurück, nur ein wenig Neid.

Heinrich Böll, 1963


Quelle: Böll, Heinrich, Werke: Band Romane und Erzählungen 4. 1961-1970. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1994, S. 267-269

OSTERN - Auferstehung - Neues Leben - Neue (uralte) Gerechtigkeit


Ostern ist die Überwindung des Todes in unseren Herzen, hin zu neuem Leben - für dich und mich, für uns ALLE  ... Herr, erbarme dich, unsere versteinerten Herzen zu öffnen 

Rentenlüge - siehe auch 15.04.09


Titel: Norbert Blüm spießt einmal mehr die Fehlinformationen zur gesetzlichen Rente auf. 

Datum: 21. November 2008 um 15:44 Uhr
Rubrik: Riester-Rürup-Täuschung
Verantwortlich: Albrecht Müller

Er hat einen Leserbrief an den Bonner Generalsanzeiger geschrieben, den Sie für Ihre eigene Information und zum Gespräch mit anderen über die Altersvorsorge prima nutzen können. Siehe Anlage 1. Darin ist auch die Information enthalten, dass Argentinien die ihm vom Internationalen Währungsfonds (IMF) aufgedrückte Privatisierung der Altersversorgung rückgängig macht und verstaatlicht. Von Chile wissen wir schon länger, in welcher Krise sich die private Altersversorgung befindet. Siehe Anlage 2. Albrecht Müller.

Anlage 1.
Dr. Norbert Blüm
Bonn, 21. November 2008

An den Chefredakteur des
General-Anzeigers
Herrn Andreas Tyrock

53100 Bonn

Sehr geehrter Herr Chefredakteur Tyrock,

mit heiterem Erstaunen lese ich den Bericht im heutigen General-Anzeiger über das 63. Buß- und Bettagsgespräch des Instituts für Gesellschaftswissenschaften.

Meine Erheiterung bezieht sich darauf, dass der Vorsitzende der Jungen Union Philipp Missfelder mir endlich zugesteht, dass die Aussage: „Die Rente ist sicher“ richtig sei. Spät kommt die Erkenntnis, doch sie kommt. Nach dem rentenpolitischen Fachblatt „BILD“ (am 17.09.2008 S. 2) zeigt jetzt auch der Renten- und Alters-spezialist der Jungen Union Missfelder Einsicht. Es blieb auch nichts anderes übrig. Weltwelt erfährt das Lieblingsprojekt der Neoliberalen, nämlich die Privatisierung der Altersvorsorge, dem wir hierzulande die Riester-Rente verdanken, ihr globales Waterloo. Gerade entnehme ich den Frühnachrichten des Deutschlandfunks, dass Argentinien, der einstige Musterschüler von Weltbank und Internationalem Währungsfonds, ihr Vorzeigeobjekt, die private Alterssicherung, verstaatlicht hat,
und zwar mit der plausiblen Erklärung, die Altersrenten den Turbulenzen des Weltfinanzmarktes zu entziehen. Der Nachbar Chile ist seit geraumer Zeit in ähnlicher Lage und hat seinem maroden kapitalgedeckten Altersversorgungssystem Zügel angelegt. Jedenfalls ist auch dort die kapitalgedeckte Altersrente „im Eimer“.
In den USA ist General Motors von seinen Pensionsfonds ins

Schleudern gebracht worden. Das Desaster ist noch größer als bekannt. 80.000 Pensionsfonds sind im Laufe der Zeit in den USA zusammengebrochen. Spektakulär bei Enron, sonst meistens lautlos als stille Beerdigung.

Der guten Alten Rentenversicherung hierzulande passierte das Gott sei Dank nie. Sie war immer zur Stelle. Zwei Weltkriege, Inflation und Währungsreform hat sie überlebt. Keine Privatversicherung der Welt hätte die Deutsche Einheit sozialpolitisch geschultert. Das schaffte nur die „alte“ Rentenversicherung. Soweit, so gut.

Mein Erstaunen bezieht sich allerdings auf Missfelders Behauptung, ich hätte nie etwas über Rentenhöhe gesagt. Hier muss es sich bei Missfelder um einen gedanklichen Aussetzer handeln oder um eine 16-jährige Unaufmerksamkeit. Ich habe 16 Jahre lang immer das Rentenniveau angegeben, mit dem zu rechnen ist.
64 Prozent Nettorentenniveau war die unterste Zielgröße, und die ergibt eine Rente, die in der Regel deutlich über dem Sozialhilfeniveau liegt, was man von der durch Riester-Rente ramponierten Rentenversicherung leider heute nicht mehr sagen kann.

Die einschneidende Niveau-Absenkung ist das Ergebnis einer neuen Rentenpolitik, die eine Beitragshöchstgrenze von 22 Prozent festgesetzt hat. Mit diesem Beitragssatz werden dann viele Hungerrenten entstehen. Das hat nichts mit dem Rentensystem zu tun, sondern damit, dass der Rentenversicherung die für eine „anständige“ Rente notwendigen Beiträge vorenthalten werden. Es ist halt so. Wenn der Motor stehen bleibt, weil nicht ausreichend Benzin im Tank ist, ist nicht der Motor schuld, wenn das Auto nicht weiterfährt.

Bis 1998 war ein „Sicherungsziel“, nämlich das Rentenniveau, Orientierungsgröße der Rentenversicherung. Jetzt ist ein „Beitragshöchstsatz“ die feststehende Größe, und alles andere sind abhängige Variablen. Das ist ein Seitenwechsel in der Rentenpolitik.

Die Behauptung, die Beitragshöchstgrenze sei mit Rücksicht auf die Belastungsfähigkeit der jungen Generation unumgänglich, ist ein Trugschluss.
Zu den 22 Prozent Rentenbeitrag muss zur Berechnung der Gesamtbelastung
noch 4 Prozent Riester-Beitrag hinzugezählt werden. Das ergibt 26 Prozent Gesamtlastung und liegt damit 2 Beitragspunkte höher, als die Rentenversicherung gebraucht hätte, um 64 Prozent Rentenniveau zu erreichen.

Das Paradox der Riester-Rente ist, dass sie keine Antwort auf die Alterssicherheit derjenigen hat, die sich keine Riester-Rente leisten können, oder wenn sie sich eine vom Munde absparen, dann in Gefahr geraten, diese später auf die Grundrente angerechnet zu bekommen. Dann haben diese Riester-Rentner für den Staatshaushalt gespart.

Die Rente sinkt, weil mit der Riester-Rente das Rentenniveau abgesenkt wurde. „Riester-Treppe“ heißt der Fachbegriff, und die geht nach unten, und zwar auch
bei jenen, die das Absenken der Renten nicht durch Riester-Rente kompensieren können. Die Schwächeren bekommen also eine Rechnung für Leistungen präsentiert, welche die Stärkeren erhalten. Das ist eine auf den Kopf gestellte Solidarität und eine Premiere in der Geschichte der deutschen Rentenpolitik.

Was den „Pump“ angelangt, der nach Missfelders Meinung die Rente mitfinanziert, so muss es sich bei dieser Behauptung offenbar um eine Verwechslung handeln.
Der „Bundeszuschuss“ ist kein Kredit des Staates für die Rentenversicherung, sondern eine Erstattung des Bundes für Fremdleistungen der Rentenversicherung.

Wie würde Herr Missfelder eigentlich die 13 Milliarden Euro bezeichnen, mit dem
der Bund die Private Altersvorsorge fördert. Dabei kommt zu guter Letzt das Geld nicht den Versicherten zugute, sondern bei Licht betrachtet „Allianz & Co“. Die Vertragsabschlusskosten fressen, wie kluge Leute nachgerechnet haben, nämlich den staatlichen Zuschuss auf. Die Verwaltungskosten der Privatversicherung sind
im Übrigen 10 Mal (und mehr) höher als die der Rentenversicherung.

Die staatliche Förderung der Privatrente finanziert sich – nebenbei bemerkt – durch einen verminderten Bundeszuschuss zur Rente, der sich daraus ergibt, dass das Rentenniveau an den Mittelbau (?) des Bundeszuschusses gekoppelt ist, relativ abgesenkt wird ??? Zum zweiten Mal zahlen die Schwachen für die Starken. Das ist Sozialpolitik als Geisterfahrerei.

Dies und auf Wunsch noch mehr zum Thema: „Die Rente ist sicher“.

Ich bin Ihnen sehr dankbar, wenn Sie diesen Leserbrief veröffentlichen.

Mit freundlichen Grüßen
Ihr

Blüm Unterschrift

Anlage 2:

Ricardo Lagos


Hauptadresse: http://www.nachdenkseiten.de/

Artikel-Adresse: http://www.nachdenkseiten.de/?p=3607

Der Mensch zählt nichts mehr, nur noch der Markt

Der totale Markt als Herausforderung –

Christen auf dem Weg zu Gerechtigkeit

Impulsreferat April 2005 von Wolfgang Kessler, Oberursel

 

Meine Damen und Herren,

wenn man – wie ich – jede Woche durch Deutschland reist, dann erlebt man vor allem eines: Nie-

dergeschlagenheit. Viele Menschen sind am Rande der Verzweiflung. Wenn man die Verzweiflung

der Menschen in einem Satz zusammenfassen wollte, dann ist es folgender: Der Mensch zählt

nichts mehr – es zählen nur noch Markt und Geld.

Für einen Journalisten ist das ein Satz, den man gerne zitiert. Über kaum etwas schreibt sich leich-

ter als über die Verzweiflung anderer. Für einen Journalisten, der auch Ökonom ist – also für mich

– hat der Satz „Der Mensch zählt nichts mehr, nur noch der Markt“ aber etwas gleichermaßen

Verwunderliches wie Erschreckendes. Denn der Markt oder die Marktwirtschaft ist ja zunächst

nichts anderes als eine Vision demokratischen Wirtschaftens: Die Menschen gehen in die Ge-

schäfte. Dort zeigen sie den Unternehmern, was sie zu kaufen wünschen. Diese erkennen, was sie

produzieren müssen, um Gewinne zu machen. Dafür, dass sie nicht zu hohe Gewinne machen

und die Menschen nicht von einem Produzenten abhängig sind, sorgt die Konkurrenz: Die Ver-

braucher können nun zwischen teuren und billigeren, anspruchsvolleren und weniger anspruchs-

vollen Waren und Dienstleistungen auswählen. Damit entsteht die Basis einer sehr demokra-

tischen Wirtschaft: Die Unternehmen produzieren zwar aus eigenem Gewinninteresse, aber

dennoch oder gerade deshalb, was die Verbraucher wünschen. Das heißt: Die Kunden bestimmen

die Wirtschaft. Und dies gilt für alle Wirtschaftsbereiche. Schließlich wirtschaften auch die Banken

nur mit dem Geld, das wir ihnen bringen und überlassen.

Dazu kommt, dass es die Politik zumindest versucht hat, aus dieser Marktwirtschaft eine soziale

Marktwirtschaft zu machen. Mit einem Steuersystem, das leistungsgerecht belastet; mit einem So-

zialsystem, das die Benachteiligten absichert; mit einem sozialen Netz, das die

Schwächeren schützt; mit Arbeitsschutzgesetzen, die Unternehmerwillkür begrenzen.

Warum in aller Welt kommen dann die Menschen mit dem Satz, dass heute nicht mehr die Men-

schen zählen, sondern nur noch der Markt.

Die Antwort ist: Weil die Marktwirtschaft in den vergangenen 25 Jahren einschneidend verändert

wurde – hin zum reinen Kapitalismus.

Wir wurden Zeuge einer Revolution.

Ihre Vorkämpferin kam gar nicht wie eine Revolutionärin daher, sondern mit Kostüm und Handta-

sche wie zum sonntäglichen Gang in die Kirche. Ihr Name war Margaret Thatcher. Ihr Wirtschafts-

rezept war so einfach wie militant: Steuern runter, Sozialleistungen runter, Schutzvorschriften ab-

bauen – und dafür die Unternehmensgewinne erhöhen. Konsequenter als jede andere Regierung

setzte die Regierung Thatcher die so genannte Pferde-Spatz-Theorie in die Praxis um: Man müsse

die fettesten Pferde füttern, damit auch für die Spatzen mehr Pferdeäpfel abfallen.

Der so genannte Neoliberalismus war geboren. Er hat das Ziel, den Markt von staatlichen und

anderen Beschränkungen zu befreien. Diese Ideologie und politische Strategie setzte sich in den

achtziger Jahren in vielen Ländern durch – im Norden wie im Süden. Überall wurden möglichst

viele staatliche Regelungen abgeschafft, wurde möglichst viel Staat privatisiert, wurden Sozialleis-

tungen gekappt, Steuern gesenkt – vor allem die Steuern für die Reichen. Diese Theorie und –

schlimmer noch – die daraus folgende Wirtschaftspolitik eroberte in wenigen Jahren die Welt. In

einem Jahrzehnt, nämlich in den neunziger Jahren, wurden weltweit mehr Zölle, Handels-

beschränkungen, Kapitalverkehrskontrollen und andere Kontrollmöglichkeiten abgebaut als in der

gesamten Menschheitsgeschichte zuvor. Die Politik wollte dem Kapital seinen freien Lauf lassen,

damit sich weltweit Marktwirtschaft und Wohlstand ausbreiten – und jetzt tobt sich das Kapital aus.

Der Markt wird immer totaler und die Politik immer begrenzter.

Wo immer diese Strategie durchgesetzt wurde, entstand eine gespaltene Gesellschaft – in

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Deutschland und weltweit.

Einerseits hat sich

- die wirtschaftliche Leistung in Deutschland in den vergangenen dreißig Jahren verdreifacht;

- pflegt die Mehrheit der Deutschen einen hohen Lebensstandard mit hohem Konsumniveau;

- besitzt jeder deutsche Haushalt im statistischen Durchschnitt Ersparnisse von 90 000 Euro;

- verfügen die Kinder durchschnittlich über zehn Mal so viel Taschengeld wie vor 20 Jahren.

Andererseits hat sich die konkrete Utopie der Marktwirtschaft in den vergangenen Jahrzehnten für

viele Menschen hier zu Lande und weltweit immer mehr zu einem Albtraum entwickelt: Der totale

Markt hinterlässt immer tiefere Spuren. Ich möchte Ihnen das an den folgenden sechs Punkten

erläutern.

1. Obwohl sich die wirtschaftliche Leistung in den vergangenen Jahrzehnten auch in Deutschland

verdreifacht hat, wird die Kluft zwischen Gewinnern und Verlierern der wirtschaftlichen Entwicklung

immer größer. Die Zahl der Sozialhilfeempfänger hat sich in den vergangenen 30 Jahren fast ver-

vierfacht und liegt bei etwa 3 Millionen Menschen. Mit dieser Armut ist auch der Reichtum ge-

wachsen. Der Anteil der zehn Prozent reichsten Haushalte am privaten Gesamtvermögen ist in

den vergangenen 30 Jahren von 42 Prozent auf 62 Prozent gestiegen.

Seit 30 Jahren wächst in Deutschland die Arbeitslosigkeit – und zwar treppenartig: In Zeiten des

Aufschwungs stagniert die Arbeitslosigkeit oder sie geht leicht zurück, in der Krise steigt die

Arbeitslosigkeit eine Stufe höher. Inzwischen sind fünf Millionen Menschen von Arbeitslosigkeit be-

troffen – mehr als  zwölf Prozent der Erwerbstätigen – und das sind nur die registrierten.

2. Zahlreiche, im Einzelnen durchaus erfolgreiche Umweltgesetze haben dafür gesorgt, dass die

Gewässer sauberer und die Luft schadstoffärmer ist als noch vor zehn Jahren. Gleichzeitig ver-

braucht das wirtschaftliche Wachstum mehr Ressourcen, als weltweit nachwachsen. Nehmen Sie

zum Beispiel den Flächenverbrauch in Deutschland. Professor Walter Rademacher vom Statis-

tischen Bundesamt formuliert es so: „Geht der Flächenverbrauch so weiter wie in den

vergangenen 30 Jahren, dann wird Deutschland in 81 Jahren zugebaut sein.“

Hinzu kommt die internationale Dimension des Umweltproblems: Das Ozonloch und vor allem die

heraufziehende Klimakatastrophe bedrohen die Lebensverhältnisse aller Menschen auf der Erde.

Und der totale Markt verbreitet unseren Wirtschafts- und Lebensstil über die ganze Welt. Was uns

bevorstehen kann, kommentiert der ehemalige brasilianische Umweltminister José Lutzenberger

so: »Wir haben derzeit auf der Erde 500 Millionen Autos und 6 Milliarden Menschen. Wenn die Mo-

torisierungsquote Deutschlands – zwei Menschen, ein Auto – weltweit erreicht wäre, dann hätten

wir drei Milliarden Autos und dann wären wir in wenigen Tagen tot. «

3. In der Weltwirtschaft weitet sich die Schere zwischen Arm und Reich. Während die Zahl der ab-

solut Armen – laut UNO-Bericht über die menschliche Entwicklung – auf knapp eine Milliarde Men-

schen angewachsen ist, besitzen die 225 reichsten Menschen der Welt so viel wie 47 Prozent der

ganzen Menschheit.

4. Weltweit wächst die Geldmenge wesentlich schneller als die Produktion von Waren und Dienst-

leistungen. Genau genommen wächst die Menge an Geld jedes Jahr fünfmal schneller als die

Menge an Waren. Ein kleines Zahlenbeispiel: Während die Börsen der Welt nach Angaben der

Deutschen Bundesbank täglich 1200 Milliarden US-Dollar umsetzen, genügen 30 Milliarden US-

Dollar, um alle Waren und Dienstleistungen zu bezahlen, die jeden Tag weltweit anfallen. Das

heißt: 1170 Milliarden Dollar werden jeden Tag an den Börsen nur zu Spekulationszwecken umge-

setzt. Welche Folgen dies haben kann, das zeigte die Asienkrise, die allein in Indonesien den Wert

der Währung über Nacht um mehrere hundert Prozent absenkte – und auf diese Weise allein in In-

donesien in drei Monaten 1,5 Millionen Menschen in die Arbeitslosigkeit trieb.

5. Dazu kommt, dass die Politik ständig an Macht verliert. Die großen Unternehmen können die

Politiker der verschiedenen Länder gegeneinander ausspielen. Sie können hier Geld verdienen

und es dort versteuern, wo die Steuern niedrig sind. Sie können hier Arbeitsplätze schaffen und

dort Arbeitsplätze vernichten. Unter diesem Druck richten die Regierungen ihre Wirtschaftspolitik

fast nur noch an den Standortinteressen der großen Konzerne aus. Doch wenn in der Wirt-

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schaftspolitik nur noch die Bedürfnisse von Daimler Chrysler oder Siemens zählen – dann ist es

eigentlich egal, wer unter Jürgen Schrempp Bundeskanzler ist.

6. Und last but not least hat der totale Markt auch das ganz normale Leben grundsätzlich

verändert. Mit Erstauen erleben viele, dass inzwischen fast alles verkauft wird. Zum Beispiel von

Prominenten. Dieter Bohlen verkauft offenbar nicht genügend CDs – da verkauft er eben seine

Ehegeschichten. Michael Schumacher verdient offenbar nicht genug – er verkaufte seine Hochzeit

an eine Illustrierte.

Viele Menschen erleben ganz alltäglich, wie sich der Markt durchsetzt. Plötzlich hören sie, dass ein

US-Konzern die Wasserleitung in ihrer Stadt übernimmt – derzeit soll die U-Bahn der Stadt Frank-

furt an einen US-Konzern verleast werden. Die Deutsche Bahn hat nur noch ein Ziel: Sie will Ge-

winne machen und börsenfähig werden. Auf dem Weg dorthin stört offenbar nur noch ein Faktor:

die Fahrgäste. Also tut man alles, um deren Bedürfnisse nicht allzu ernst zu nehmen. Und weltweit

werden Pflanzen und Lebewesen erst gestohlen, dann patentiert und anschließend an jene ver-

kauft, von denen sie gestohlen wurden – nämlich an die Einheimischen in der Dritten Welt. Wo der

totale Markt regiert, wird das Leben zur Ware.

Und in dieser totalen Vermarktung der ganzen Welt ändern sich auch Begriffe, zum Beispiel der

Begriff „Reform“. Ursprünglich stand dahinter ja ein Mehr an Demokratie, ein Mehr an sozialer

Gerechtigkeit. Inzwischen meint Reform etwas ganz anderes. Wenn das Wort fällt, dann wissen

alle: Eine Leistung, die bislang von der Gesellschaft bezahlt wurde, soll jetzt privat bezahlt werden,

und wer dies nicht einsieht, ist ein Betonkopf.

Dieses neue totalitäre System namens Markt fordert alle Menschen heraus. Eine besondere Her-

ausforderung ist es jedoch für uns Christen – und damit auch für die Kirchen. Die Gründe sind

einfach. Zum einen sind Christen in der Nachfolge von Jesus auf besondere Weise den Benachtei-

ligten, den Ausgegrenzten und den so genannten Schwächeren verbunden. Und es sind diese Be-

nachteiligten, die auch am Markt benachteiligt sind. Wer nichts verkaufen kann, hat am Markt

nichts zu melden. Und es sind genau die Interessen der Benachteiligten, die die Kirchen zuerst zu

vertreten haben, wenn sie ihre Rolle ernst nehmen.

Dazu kommt jedoch ein anderer Faktor. Derzeit werden die Menschen dem Markt geradezu un-

terworfen. Sie sind nur noch Rädchen in einem Getriebe, das sie selbst nicht mehr kontrollieren

können. Das widerspricht der christlichen Sozialethik grundsätzlich. Die christlichen Sozialethiker

fordern schon immer und zu Recht, dass die Wirtschaft für den Menschen da ist – und nicht umge-

kehrt.

Zurzeit ist es umgekehrt. Daraus ergibt sich für uns Christen und für die Kirchen ein klarer Auftrag,

nämlich der, Widerstand dagegen zu leisten, dass die Menschen einem Marktmechanismus un-

terworfen werden, der die Ungerechtigkeiten hier zu Lande und weltweit ständig verstärkt. Nie-

mand erwartet dabei von den Kirchen ein alternatives Wirtschaftsprogramm. Erwarten können wir

aber, dass die Kirchen auf eines hinweisen: dass es Alternativen zur Herrschaft des totalen

Marktes gibt – und dass diese bereits praktiziert werden.

Diese Alternativen zeigen, dass die Wirtschaft immer dann menschlich wird, wenn die Menschen

sie in die Hand nehmen und eben nicht dem Markt überlassen. Dass genau dadurch jene Proble-

me gelöst werden können, die uns derzeit so stark bedrängen, das möchte ich Ihnen an fünf Bei-

spielen aufzeigen.

1. Ein kleineres Land in Europa betrieb viele Jahre lang unter schwierigen Bedingungen eine

ebenso sozial wie ökologisch intelligente Wirtschaftspolitik. Es heißt Dänemark. Es hat seit Mit-

te der neunziger Jahre vor allem drei Maßnahmen konsequent durchgesetzt: Zum einen hat es

ein flächendeckendes Ökosteuer-System eingeführt und dafür die Lohn- und Einkommens-

steuern gesenkt. Die Folge: Die Unternehmen setzen auf Innovation und auf eine umweltver-

trägliche Produktionsweise. Zum anderen praktizieren die Unternehmen vielfältige Formen der

Arbeitszeitverkürzung: Sabbatjahre, Teilzeitarbeit, Job-Rotation, Überstundenabbau, geringere

Wochenarbeitszeit. Zum Dritten werden die Öko-Einnahmen für eine energische Arbeitsmarkt-

politik genutzt, die Arbeitslose weiterqualifiziert, sozial betreut und wieder in den Arbeitsmarkt

integriert. Das Ergebnis nach etwa acht Jahren: Senkung der Arbeitslosigkeit von 12 auf vier

Prozent; steigendes Wachstum und Aufbau neuer, umweltverträglicher Wirtschaftsformen. Dar-

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aus resultiert ein Problem, das Bundesfinanzminister Hans Eichel vor Freude ausflippen ließe:

Dänemark streitet darüber, was mit dem Überschuss im Staatshaushalt zu geschehen hat. Es

gibt also doch eine Alternative zu dem, was hier zu Lande Sozialreformen genannt wird.

2. Und es gibt sie nicht nur bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Es gibt sie auch bei der

Finanzierung des Sozialstaates. Allerdings nur dann, wenn man konsequent mehr Solidarität

einführt anstatt Solidarität konsequent abzubauen. Wie dies gehen kann, das zeigt die

Schweiz: Dort sind alle Bürgerinnen und Bürger ab dem 20.Lebensjahr Mitglied der Rentenver-

sicherung, egal, ob sie nicht-erwerbstätig sind, angestellt, beamtet, Arbeiter, selbstständig,

Landwirt oder Unternehmer. Und sie zahlen alle Beiträge von allen Einkommen: Löhne, Gehäl-

ter, Gewinne, Vermögenserträge. Das Resultat ist eindrucksvoll: Alle Bürgerinnen und Bürger

sind durch eine Mindestrente, die meisten durch eine höhere Rente abgesichert. Und die Bei-

träge sind halb so hoch wie in Deutschland. Dieser Sozialstaat ist global und doch gerecht.

3. Dass auch eine partnerschaftliche internationale Umweltpolitik zwischen Nord und Süd

möglich ist, das zeigt die Politik gegen das Ozonloch. So wurde die Produktion von FCKW

weltweit drastisch verringert – durch das Abkommen von Montreal. Es sah vor, dass die Indus-

trieländer die Produktion der Ozonkiller FCKW bis zum Jahre 1996 einstellen – die Entwick-

lungsländer bis zum Jahre 2010. Damit die so genannten Entwicklungsländer dies auch

können, wurde ein Fonds eingerichtet, in den die Industrieländer 1,5 Milliarden US-Dollar ein-

zahlten. Er hilft Entwicklungsländern beim Ersatz von FCKW und wird von je sieben Vertretern

aus Industrie- und Entwicklungsländern verwaltet. Ökologische Partnerschaft zwischen Nord

und Süd ist also möglich. Könnte man so nicht auch die Klimakatastrophe angehen?

4. In Sri Lanka geschieht, was wirklich Zukunft hat: Dort produziert eine einheimische Solar-

firma mit Hilfe des Erdölkonzerns Shell Solarzellen, die über günstige Kleinkredite und Förder-

programme der Weltbank einheimischen Bauern angeboten werden. Das Programm zur Ver-

sorgung der ländlichen Entwicklung mit Strom stößt auf Begeisterung. 7000 Bauern versorgen

sich und ihre Dörfer auf diese Weise zum ersten Mal in ihrem Leben mit Strom. Könnten die

Vereinten Nationen nicht einen internationalen Marshallplan auflegen, der genau so arbeitet –

vielleicht finanziert mit einer geringen Steuer auf Börsenspekulationen, damit auch diese noch

einen Sinn für die Menschheit haben? Dann hätten in einigen Jahrzehnten auch jene 2,5 Milli-

arden Menschen Strom, die heute keinen haben – und dies, ohne die Umwelt zu zerstören.

5. Die Insel Mauritius zeigt, was eine bestimmte Form von Entwicklungspolitik bringen kann:

Die Insel profitierte über Jahrzehnte von Mehreinnahmen in Höhe von 100 Millionen Euro pro

Jahr, die die Europäische Union dann bezahlt, wenn die Marktpreise für einen Rohstoff unter

ein bestimmtes Niveau fallen. Diese Mehreinnahmen nutzte Mauritius zu weit reichenden In-

vestitionen: in die Förderung von Kleinbetrieben, in moderne Technologien, in Dienstleis-

tungen. Und siehe da: Der Lebensstandard ist inzwischen drei Mal so hoch wie in Indien, und

es gibt eine soziale Demokratie. Da fragt man sich doch: Könnten nicht alle Industrieländer der

Welt einfach einen Zuschlag für Rohstoffe aus besonders armen Ländern bezahlen, damit

diese nicht ständig von den Weltmarktpreisen ruiniert werden? Das wäre eine Preispolitik

gegen den Markt – aber für die Menschen?

Solche Beispiele zeigen, wie die Politik dafür sorgen kann, dass nicht in erster Linie der Markt

zählt, sondern der Mensch. Bleibt die Frage: Wie kommt die Politik dazu, dies zu tun?

Die Antwort: Nur wenn Menschen diese Politik einfordern. Und wir Christen sind hier besonders

gefordert. Wir können es nicht zulassen, dass die Welt dem Markt überlassen wird und damit

jenen, die den Markt beherrschen.

Und eigentlich hätten die Kirchen gute Chancen, diese Gegenmacht zu organisieren. Sie re-

präsentieren sehr viele Menschen und sind selbst Global Players. Doch sie spielen die Rolle der

Gegenmacht allenfalls halbherzig. Oft genug sitzen sie mit am Tisch der Herrschenden. Vielfach

sind sie als Gegenmacht deshalb nicht glaubwürdig. Wer – wie die Kirchen – oft mit seinen

Beschäftigten nicht viel anders umgeht – oder manchmal noch schlimmer –, als es in ganz norma-

len Wirtschaftsunternehmen der Fall ist, hat nicht die Glaubwürdigkeit, offensiv für soziale Ge-

rechtigkeit einzutreten. Wer – wie die Kirchen – sein Vermögen oft genau nach den gleichen Zielen

anlegt, wie sie auch auf dem Kapitalmarkt gelten, kann kaum ethische Grundlagen für die Finanz-

märkte einklagen.

Dies zu ändern, ist deshalb Aufgabe der Christen. Sollen die Menschen nicht immer stärker zu

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Rädchen im Getriebe des Weltmarktes werden, dann brauchen wir eine große Gegenbewegung

auf der Grundlage breiter Bündnisse: Die soziale Bewegung erstarkt gerade wieder, die Friedens-

bewegung hat gerade gezeigt, wie man weltweit für die gleichen Ziele mobilisiert, und die

Globalisierungskritiker haben bewiesen, dass man die internationale Politik zwingen kann, künftig

nicht nur wirtschaftliche, sondern auch soziale und ökologische Fragen auszusprechen. Diese brei-

te Bewegung zu unterstützen und zu bündeln – das ist die Aufgabe von Kirchen, hier und in der

ganzen Welt. Von dieser Bewegung wird es abhängen, ob künftig der Markt den Menschen dient –

oder ob es weiterhin umgekehrt läuft.

Bleibt die letzte Frage: Gibt es noch Hoffnung auf eine Veränderung? Das ist die schwierigste

Frage, weil bei uns Deutschen das Wort Hoffnung viel schwerer wiegt als unser ewiger Pessimis-

mus. Deshalb möchte ich meine Hoffnung etwas satirisch ausdrücken: Wir haben keine Chancen,

also nutzen wir sie.

Wolfgang Kessler

 

Wolfgang Kessler

Wirtschaftswissenschaftler & Chefredakteur von Publik-Forum. (Postfach 2010, 61410 Oberursel).

Er ist Autor der Bücher:

Weltbeben – Auswege aus der Globalisierungsfalle, Publik-Forum-Verlag

Geld und Gewissen – Tu Gutes und verdiene daran, Publik-Forum-Verlag

Wider die herrschende Leere - Neue Perspektiven für Politik und Wirtschaft, Publik-Forum-Verlag

Wirtschaften im dritten Jahrtausend - Leitfaden für ein zukunftsfähiges Deutschland, Publik-Forum-Verlag